Lothar Kliesch

Mein Einstieg in die Politik

Mein Eintritt in die Politik erfolgte im Herbst 1989, als ich zum Bürgermeister Himmelpforts gewählt wurde - in der wohl ersten geheimen Wahl in der DDR. Die Geschehnisse dieser Zeit möchte ich hier noch einmal darstellen.

Abwenden, umbiegen, unter Kontrolle halten, das Schlimmste verhindern - mit diesen Wörtern lässt sich der Kurs der SED umschreiben, den sie im Oktober und November 1989 landesweit steuerte. Das führte in Himmelpfort dazu, dass die Bürgermeisterin am 6. November zu einer öffentlichen Aussprache in das Mehrzweckgebäude, dem Sitz des Gemeinderates, einlud. Es kamen rund 250 Leute, darunter die Gemeindevertreter und Vertreter vom Rat des Kreises. Die Stimmung war gereizt, die Menschen machten ihrem Ärger Luft und kritisierten die Verschwendung zu Lasten der Allgemeinheit und Begünstigung einzelner Personen andererseits. Es ging nicht im irgendwas, sondern um Dinge, die in der DDR-Mangelwirtschaft knapp waren und deshalb sehr begehrt. Wenn dann Parteigenossen erhielten, worauf andere verzichten mussten, waren Neid, Missgunst und der damit verbundene berechtigte Groll groß. Es kam an diesem Abend zu schweren persönlichen Angriffen.

Kurze Zeit nach dieser Zusammenkunft kamen Jürgen G. und Monika H. zu mir und fragten mich, ob ich bereit sei, Bürgermeister zu werden. Sie hatten in einem kleinen Kreis von Himmelpfortern vorher darüber beraten. Dabei war ihre Wahl auf mich gefallen, weil ich Neubürger im Ort war und daher als unabhängig und neutral angesehen wurde. Ich war bereit.

Die Abwahl von Bürgermeistern und Gemeinderäten war nach DDR-Recht nicht vorgesehen, so dass wir überlegten, wie wir am besten zum Ziel kommen. Wir entschieden uns für eine Unterschriftenaktion mit der Frage: "Sind Sie dafür, dass Bürgermeisterin und Rat zurücktreten und ihr Mandat abgeben?" Niemand sollte seine Unterschrift unter Druck abgeben, den hatten wir lange genug gehabt, deshalb gingen wir mit jeweils zwei Personen von Haus zu Haus, um von Anfang an Öffentlichkeit und Kontrolle für unser Anliegen sicherzustellen. Das war Anfang November 1989, wenige Tage vor dem Mauerfall.

Von rund 420 Wählern haben vielleicht 350 für die Abwahl gestimmt. Mit diesen Unterschriften fuhren wir nach Gransee zum Rat des Kreises. Wie zu erwarten war, ernteten wir keine freudige Zustimmung, denn die Kommunalverfassung der DDR sah die Abwahl von Gemeinderäten nicht vor. Folglich war sie auch nicht zulässig. Aber es musste ein Kompromiss her, wenn man uns wieder loswerden wollte.

Wir verständigten uns darauf, dass die Bürgermeisterin auf der nächsten geplanten Einwohnerversammlung diese Frage auf die Tagesordnung bringen sollte. Der Gemeinderat, so wurde in Aussicht gestellt, sollte dabei seinen Rücktritt erklären, ein Friedensangebot, das nur vor dem Hintergrund der sich überstürzenden Ereignisse zu verstehen ist.

Am 27. November 1989 fand das historische Ereignis in Himmelpfort statt. Im Mehrzweckgebäude hatten vorn am Tisch des Versammlungsraumes der Rat der Gemeinde, die Bürgermeisterin und ein Ratsmitglied des Kreises platzgenommen. Letzterer übernahm das Wort und erklärte strikt: "Der Rücktritt von Gemeinderäten ist nach DDR-Recht nicht vorgesehen." Es sah so aus, als wollte er sich nicht an die Absprache halten. Entsprechend war die Reaktion im Saal: "Buh!", "Verrat!", "Betrug!" wurde lautstark gerufen.

In diesem Tumult fragte der Vertreter des Kreises: 'Ist denn jemand im Raum, der Bürgermeister werden will?' Zu seiner Verblüffung stand ich auf und sagte: 'Ja!'

Nun versuchte der Kreisvertreter zu retten, was im Sinne der SED für den Gemeinderat noch zu retten war und erklärte: "Wenn es einen neuen Bürgermeister geben soll, muss er in geheimer Wahl von den Gemeindevertretern gewählt werden." Wieder gab es lauten Protest, man witterte einen Trick, kurz es war eine bedrohliche Situation. Der Vorschlag war in der festen Hoffnung gemacht, dass die Gemeindevertreter die Bürgermeisterin in ihrem Amt bestätigen würden. Es kam schließlich zu einer geheimen Abstimmung zwischen uns beiden. Derweil herrschte gespannte Ruhe im Saal, viele stellten sich innerlich auf Prügelei und Rausschmiss ein. Schließlich das Ergebnis: Mit 11 zu 8 Stimmen wurde ich als Bürgermeister gewählt, der erste in der DDR, der in geheimer Wahl bestimmt worden war. Welch Ironie der Geschichte, dass die SED diese Wahl herbeigeführt hatte! Der Kreisvertreter reagierte verblüfft, erstaunt und verärgert, dass sein Coup nicht gelungen war, es gab betretene Gesichter, doch die meisten anderen freuten sich und klatschten ausgelassen Beifall. Danach erklärte der Rat der Gemeinde seinen Rücktritt.

In Himmelpfort wurde ein Runder Tisch aus ca. zwölf Personen, an dem Vertreter der Parteien, aber auch einzelne Bürger teilnahmen. Beraten wurden einmal im Monat die Themen Jugend, Frauen, Umwelt, Tourismus, Wirtschaft und Gewerbe. Besonderes Ärgernis war die Wohnraumzwangsbewirtschaftung, die immer noch galt und zu zahlreichen Mieterzwisten führte.

Bevor ich zum ersten Mal die Amtsräume als ehrenamtlicher Bürgermeister betrat rauchte Tag und Nacht der Schornstein des Gemeindehauses. Offenbar wurden Altlasten entsorgt, wie im Dorf registriert wurde. Die Grundstimmung war allgemein positiv, denn wir hatten unser wichtigstes Ziel, den Rücktritt des Gemeinderates erreicht. Hier und da gab es auch Sticheleien: "Die neuen sollen es erst einmal besser machen." Warum auch nicht. Damals gab es immer noch Leute, die schädlichen westlichen Einfluss von uns fern halten wollten. Ein Beispiel dafür war ein Brief aus Himmelsthür. In dem Schreiben ging es um die Frage, ob und wie wir in Himmelpfort ein Weihnachtspostamt einrichten könnten. Der Vorschlag erreichte mich als Bürgermeister nicht auf direktem Postweg, sondern mit einiger Verzögerung über die Sicherheitsabteilung beim Rat des Kreises. Ein Mitarbeiter aus Gransee überbrachte mir den Brief sogar persönlich. Als das Schreiben endlich der Gemeinde vorlag, ging es durch viele Hände und fand erneut einen Liebhaber. Jedenfalls verschwand es ein zweites Mal und ist bis heute nicht aufgetaucht.

Zu tun gab es im Frühjahr 1990 einiges, doch viele Arbeiten wie die Verlegung der Abwasserleitung, ruhten wegen des Winterwetters. Himmelpfort bot einen traurigen Anblick. Die alten Linden an der Bahnhofstraße und in der Klosterstraße waren wegen der Wasser- und Abwasserleitung gefällt worden, Sandberge und Ausschachtungen säumten den Weg anstelle von Bürgersteigen, das Dorf war eine einzige Sandwüste.

Die Zeit des Runden Tisches und des Übergangs ging mit der Kommunalwahl vom 5. Mai 1990 zu Ende. Damals wurde ich mit großer Mehrheit im Amt bestätigt. Vieles hat sich inzwischen in Himmelpfort geändert. Am schönen Ortsbild, an dem jeder Bürger seinen Anteil hat, können wir ablesen, dass wir auf dem richtigem Weg sind.

Dieser Text wurde in der Himmelpforter Chronik veröffentlicht.